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- Volume 5 - 2017 : Architecture, espace, aisthesis
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Sensualistische Tendenzen in der französischen Architekturtheorie des späten 18. Jahrhunderts
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Le Traité des sensations publié en 1754 par le plus éminent représentant du Sensualisme français, Étienne Bonnot de Condillac, comprend un modèle très nuancé de la corrélation des sens et de leur importance pour les capacités et la connaissance humaines. Toute connaissance est un produit de la perception sensible. Dans ce contexte, le sens du toucher joue un rôle crucial, car il est le seul sens qui permet aux hommes de développer une idée d’eux-mêmes, des objets, du temps et de l’espace. Dans le domaine de l’architecture et de sa théorie, cette conception a relativement peu suscité l’attention; néanmoins, les représentants de l‘“Architecture révolutionnaire“, Claude-Nicolas Ledoux, Étienne-Louis Boullée et Jean-Jacques Lequeu, l’ont utilisée afin de renforcer d’autres idées plus centrales, comme celle du Caractère ou celle du génie. Il est même possible de considérer la philosophie de Condillac comme l’un des fondements des caractéristiques formelles et structurelles prédominantes dans ce type d’architecture. Les bâtiments sont composés de formes distinctes, claires et simples. Comme dans le sensualisme, il y a une voie immédiate de l’impression sensible au concept et à la connaissance. La perception, la connaissance et l‘esthétique sont étroitement liées.
Abstract
The Traité des sensations, published in 1754 by the most prominent exponent of French Sensualism, Étienne Bonnot de Condillac, comprises a highly differentiated model for the interrelation of the senses and their relevance to human faculties and understanding. All knowledge is described as the product of sensory perception. The sense of touch plays a crucial role in this context as it is the only sense which allows humans to develop ideas of their self, of objects, time, and space. In the field of architecture and its theory, this concept received little attention; yet the representatives of so-called Revolutionary Architecture, Claude-Nicolas Ledoux, Étienne-Louis Boullée and Jean-Jacques Lequeu, employed this idea to strengthen other, more central thoughts like the one of Caractère or the cult of genius. It is even possible to understand Condillac’s philosophy as an important basis for the predominant formal and structural characteristics of this type of architecture. The buildings are composed of distinct units with clear and simple geometrical forms. Just like in Sensualism, there is a direct way from sensation to concept and knowledge. Perception, understanding, and aesthetics are closely linked.
Zusammenfassung
In dem 1754 erschienenen Traité des sensations entwickelt der prominenteste Vertreter des französischen Sensualismus, Étienne Bonnot de Condillac, ein differenziertes Modell für die Relation der unterschiedlichen Sinne zueinander und zu den Fähigkeiten und Erkenntnissen des Menschen. Sämtliche Erkenntnis ist demnach ein Ergebnis sinnlicher Wahrnehmung, wobei gerade dem Tastsinn eine entscheidende Bedeutung zukommt, um Vorstellungen vom Selbst und den Gegenständen, von Raum und Zeit zu gewinnen. In der Baukunst und Architekturtheorie erfuhr dieser Ansatz eine relativ geringe Resonanz, allerdings gebrauchen ihn die Vertreter der sogenannten Revolutionsarchitektur Claude-Nicolas Ledoux, Étienne-Louis Boullée und Jean-Jacques Lequeu, um ihn mit anderen Konzepten wie der Caractère-Lehre oder dem Geniekult zu verbinden. Er lässt sich sogar als wichtige Grundlage für die prädominanten formalen und strukturellen Eigenschaften dieser Architektur verstehen. Die Bauten sind aus geometrisch klar definierten, distinkten Einheiten zusammengesetzt. Auf diese Weise führt wie im Sensualismus ein unmittelbarer Weg vom Sinneseindruck zu Vorstellung und Begriff – Wahrnehmung, Erkenntnis und Ästhetik sind eng miteinander verbunden.
Table of content
1In wenigen philosophischen Werken wird die Bedeutung der menschlichen Sinne für Wahrnehmung und Erkenntnis in derart pointierter Weise herausgearbeitet wie in dem 1754 erschienenen Traité des sensations. Der französische Abbé und Philosoph Étienne Bonnot de Condillac setzte hier Gedanken in größerer Radikalität fort, die bereits 1746 in seinem Essai sur l’origine des connaissances humaines und 1749 im Traité des systèmes angeklungen waren.1 Den Kern der Schrift bildet ein ausführlich geschildertes Gedankenexperiment. Der Leser wird aufgefordert, sich mit einem Marmorstandbild zu identifizieren, das zwar die Fähigkeiten eines Menschen besitzt, jedoch ohne Erinnerungen und Sinnesorgane auskommen muss.2 Die steinerne Oberfläche wird mit dem Fortschreiten des Textes sukzessive für unterschiedliche Sinne geöffnet, um die Bedeutung der Eindrücke für die Erkenntnis bestimmen zu können. Zwar betont Condillac den artifiziellen Charakter des Experimentes und bezeichnet sein merkwürdiges Konstrukt als „Statue“, am Ende der Abhandlung heißt es jedoch provokativ: „Elle n’est donc rien qu'autant qu'elle a acquis. Pourquoi n’en seroit-il pas de même de l’homme ?“3.
2Das Gedankenexperiment dient der Begründung und Differenzierung eines sensualistischen Konzeptes von den Vorstellungen, Erkenntnissen und Fähigkeiten des Menschen. Derartige, letztlich auf Aristoteles zurückgehende Gedanken sind seit der ersten französischen Übersetzung von John Lockes Essay Concerning Humane Understanding in Frankreich populär gewesen, neben Condillac gelten insbesondere Charles Bonnet und Claude Adrien Helvétius als wichtige Vertreter des Sensualismus.4 Ersterer hat insofern eine besonders radikale Position inne, als er letztlich alle Vorstellungen (idées) auf Sinneseindrücke zurückführt. Daher muss sich die Statue von Condillac im ersten Kapitel mit dem Geruchssinn begnügen, während sich der Autor bemüht, aufzuzeigen, dass dennoch alle Vermögen der Seele wie Gedächtnis, Urteilsvermögen oder Einbildungskraft bereits im Keim entstehen können.5 Die unterschiedliche Qualität der Eindrücke führt zu Freude und Leid, diese sorgen wiederum für eine Anregung der Aufmerksamkeit und einen urteilenden Vergleich der Sinneseindrücke. Durch Gedächtnis und Einbildungskraft können vergangene Eindrücke mit den aktuellen verglichen werden. Die Wiederholung und Übung dieser Vorgänge bringt das Erkenntnisvermögen hervor.6
3Indem er dieses Modell des auf einen Sinn beschränkten Menschen entwickelt, kann Condillac eine Bewertung der unterschiedlichen Sinne vornehmen, wobei er sich auf zeitgenössische Topoi stützt, wie etwa den Pygmalion-Mythos und das Molyneux-Problem, also die 1688 von William Molyneux aufgeworfene Frage, ob ein seit Geburt blinder Mensch, der nachträglich die Sehkraft erlangt, nun Körper alleine durch die Sehkraft unterscheiden kann, die er bislang nur durch den Tastsinn erfasst hat.7 Condillac kommt zu dem Ergebnis, dass für die entscheidenden Erkenntnisse von Raum, Zeit und Selbst nicht etwa der Sehsinn, sondern der Tastsinn verantwortlich ist.8 Der Autor führt aus, dass die ‚Statue’ – oder genauer ihre Vorstellung – zunächst mit dem jeweiligen Sinneseindruck identisch ist – wenn sie eine Rose riecht „elle ne sera que l’odeur même de cette fleur.“9 Erst, wenn der Mensch sich selbst berührt, ist er dazu fähig, sich als Entität zu erkennen. Und erst, wenn die Umgebung betastet und durchschritten wird, erhält der Mensch Vorstellungen von Raum und Körperlichkeit, aber auch der Zeit.10 In diesem Moment ist er in der Lage, die Empfindungen von Farbe oder Geruch distinkten Gegenständen zuordnen: „C’est la main, qui fixant successivement la vue sur les différentes parties d’une figure, les grave toutes dans la mémoire : c’est elle qui conduit, pour ansi dire, le pinceau ; lorsque les yeux commencent à répandre au dehors la lumiere & les couleurs, qu’ils ont d’abord senties en eux-mêmes.“11 Dieser Erkenntnisvorgang führt von der Mikrostruktur taktiler Bewegungen bis hin zum kosmologischen Maßstab. Ist das Auge einmal belehrt, kann es auch eigenständig vorgehen, Augentäuschungen beweisen jedoch, dass es weiterhin auf Korrekturen angewiesen ist: „J’ouvre les yeux à la lumiere, & je ne vois d’abord qu’un nuage confus. Je touche, j’avance, je touche encore : un cahos se débrouille insensiblement à mes regards. Le tact décompose en quelque sorte la lumiere ; il sépare les couleurs, les distribue sur les objets, démêle un espace éclairé, & dans cet espace des grandeurs & des figures, conduit mes yeux jusqu'à une certaine distance, leur ouvre le chemin par où ils doivent se porter au loin sur la terre, & s’élever jusqu’aux cieux : devant eux, en un mot, il déploye l’univers.”12
4Nicht nur derartig opulente Sprachbilder, auch die zahlreichen Metaphern und Vergleiche aus dem Bereich der bildenden Künste13 machen Condillacs Schriften für die Kunst- und Architekturgeschichte interessant. Zwar darf man seine Ausführungen nicht als Schilderung der kindlichen Entwicklung oder pädagogische Anleitung missverstehen, da beim Menschen die Sinne von Anfang an in komplexer Weise zusammenwirken. Jedoch werfen das differenziert beschriebene Zusammenspiel und insbesondere die Thesen einer Hierarchie und gegenseitigen Belehrung der Sinne wichtige Fragen bezüglich der Wahrnehmung von Kunst und Architektur auf. Die von Condillac energisch betonte enge Verbindung von Erkenntnis, Ästhetik und Wahrnehmung, sowie die klare Trennung des Gesichtssinns auf der einen Seite von einer durch Bewegung unterstützen haptischen Wahrnehmung auf der anderen könnten weitreichende Implikationen auch für die Gestaltung von architektonischen Räumen und Körpern besitzen.
51. Charles Nicolas Cochin, Les misotechnites aux enfers, 1763, S. 32
6Auf einer eher allgemeinen Ebene ist eine Rezeption sensualistischer Vorstellungen in der Kunsttheorie nachzuweisen, beispielsweise einem Werk, das der Maler, Graphiker und Sekretär der Académie royale de peinture et de sculpture Charles-Nicolas Cochin 1763 publizierte. In diesem Band werden die Urteile von Kunstkritikern, die ohne eigene praktische Erfahrungen gefällt wurden, mit spitzer Feder attackiert, wobei der Autor insbesondere auf Étienne La Font de Saint-Yenne und Joseph de La Porte zielt.14 Den Text von Les Misotechnites aux enfers begleiten Vignetten zu Beginn jedes Kapitels. Cochin unterstützt in diesen karikaturartigen Darstellungen die Argumentation, indem er die falschen Urteile der Kritiker entlarvt. Fast durchgängig verwendet er dazu in differenzierter Weise das Thema der Wahrnehmung, also das Verhältnis der Sinne zueinander und das Problem der Sinnestäuschungen – beispielsweise über das Herunterreißen von Masken oder Spiegelfechtereien.15 So fasst er den Fehler der Kritiker, lediglich einer fremden Meinung zu folgen statt selbst zu beobachten, bildlich in Gestalt einer Gegenüberstellung der Sinne (Abb. 1): Die Brille des blinden Kritikers rahmt in paradoxer Weise ein verbundenes Auge und ein Ohr.16
72. Charles Nicolas Cochin, Les misotechnites aux enfers, 1763, S. 17
8Grundlegender tritt das Thema in einem Kapitel zu Tage, in dem die verspotteten Kritiker das Problem ansprechen, ob eine Gloriole als Bildhauerarbeit dargestellt werden könne (Abb. 2). Einem illusionistischen Effekt würden „la pesanteur, l’opacité & l’inertie de la matiere“17 entgegenstehen. In der zugehörigen Radierung ist dem Kritiker ganz wörtlich der Blick auf die göttliche Erscheinung durch eine schwere Steinplatte verstellt – noch verdeutlicht durch die abgewinkelte Sichtlinie. Aber auch der Tastsinn hilft dem Schreiber nicht weiter, der nach dem heiligen Glanz zu greifen sucht. Wie auch Condillac so scheidet Cochin die Sinne voneinander, statt einer erkenntnisfördernden Ergänzung wird hier jedoch das doppelte Scheitern zum Thema, indem der kleingeistige Kritiker sich in keiner Weise dem Übernatürlichen zu nähern weiß.
9Die Rezeption der Thesen und Problemstellungen Condillacs sind in der zeitgenössischen Baukunst und Architekturtheorie weitgehend implizit geblieben und zudem weniger prävalent als Themen wie Caractère-Lehre, Typologie, Urhütte oder das Sublime.18 Ausgangspunkt ist eine hohe Aufmerksamkeit für das Zusammenwirken der Sinneswahrnehmungen, wie es insbesondere in der Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen La Petite Maison von Jean-François de Bastide entfaltet wird. Das subtile Zusammenspiel von verschiedenen Eindrücken dient hier dem Ziel des Hausherrn, die Besucherin seines kostbaren kleinen Lusthauses mittels einer synästhetischen Überwältigung zu verführen – durch versteckte Musiker, überraschend einsetzendes Feuerwerk und durch eine optisch, haptisch und olfaktorisch in höchstem Maße geschmackvolle Ausstattung der Räume und des Gartens.19 Es ist die These dieses Beitrages, dass sich bei den Protagonisten der sogenannten Revolutionsarchitektur im späten 18. Jahrhundert Ansätze finden lassen, die über diesen Überwältigungsgestus hinausgehen und in der Nachfolge Condillacs ein differenziertes Verhältnis der Sinneswahrnehmungen in den Vordergrund rücken. Bei diesem höchst unglücklich benannten architekturhistorischen Phänomen handelt es sich um eine formal und strukturell kühne Weiterentwicklung der klassischen vitruvianischen Baukunst, die um weitreichende theoretische Postulate ergänzt wurde. Die Formensprache der Revolutionsarchitektur entwickelte sich aus einem als „Elementarismus“ bezeichneten Phänomen heraus, das Michael Häberle durch „stereometrische Volumina“, „variationsreiche Raumformen“, und „Autonomie der Bestandteile“20 charakterisiert, und zwar in ihren Grundzügen zwischen 1740 und 1760 – also zur Zeit von Condillacs zentralen Publikationen. Ihre konsequente Ausprägung und theoretische Fundierung erhielt sie jedoch erst ab den 1770er Jahren in der ‚Revolutionsarchitektur’ im engeren Sinne, die sich idealtypisch im Werk von Claude-Nicolas Ledoux, Étienne-Louis Boullée und in Ansätzen auch Jean-Jacques Lequeu finden lässt.21
1. Claude-Nicolas Ledoux – Die Wahrnehmung gehorcht dem Genie
10Wie bereits an anderer Stelle erläutert wurde, kann insbesondere eine zentrale programmatische Tafel in der Publikation L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation, die Claude-Nicolas Ledoux 1804 publizierte, als Rezeption der Thesen Condillacs gedeutet werden.22 In dem monumentalen Band stellte der französische Architekt ausgeführte und fantastische Projekte der letzten Jahrzehnte zu der idealen Salinenstadt Chaux zusammen und bettet diese Reihe an Bauwerken in einen facettenreichen und allegorischen Text ein, der physiokratische, enzyklopädische, historische, ästhetische und soziale Aspekte zusammenführt.
113. Theater von Besançon, ‚Coup d'oeil’ (Claude-Nicolas Ledoux, L’architecture, 1804, Taf. 113)
12Eine wichtige Position räumt der Autor dem von ihm 1777-86 errichteten Theater von Besançon ein. Berühmt geworden ist eine programmatische Darstellung, in welcher Ledoux die perspektivische Darstellung des Zuschauerrundes einem Auge einschreibt (Abb. 3). Die gleichmäßig samtraue Oberfläche von Gesicht und Augapfel und die fast ornamental abstrahierten Augenlider weisen darauf hin, dass es sich um eine Skulptur handelt, um eine marmorne Hülle im Sinne von Condillacs Statue, die im Bereich des Auges geöffnet wird. Wir blicken als Betrachter durch die Iris auf den Sinneseindruck selbst, der mit dem Vorstellungsvermögen des statuarischen Menschen in Eins fällt, so wie gemäß dem Traité des sensations der Rosenduft seine Existenz darstellen kann. Das Bild des Coup d’œil zeigt diesen Eindruck selbst und belegt somit die Einheit von Wahrnehmungsgegenstand und Betrachter, den eine Sinneswahrnehmung nach Condillac mit sich bringen kann. Der aus dem Auge heraustretende Strahl kann zudem als Bündel an Sehstrahlen verstanden werden, die der sensualistische Autor mit einer unendlichen Zahlen an Stöcken vergleicht, mit denen ein Blinder die Umgebung tastend wahrnimmt.23
134. Theater von Besançon, Schnitt (Claude-Nicolas Ledoux, L’architecture, 1804, Taf. 119)
14Auch das hierarchische Verhältnis von Tastsinn und Sehsinn scheint für Ledoux bei diesem Entwurf ein Thema gewesen zu sein (Abb. 4). Ein Querschnitt des Theaters zeigt ein Bühnenbild mit einer antikisierenden Basilika und Exedra. Letztere entspricht in ihrer Form und ihren Details exakt dem Zuschauerraum. Der bildimmanenten Logik zufolge würde sich das Publikum demnach in einem Halbrund befinden, das in symmetrischer Weise einem basilikalen Saal an der Schmalseite angefügt ist. Ledoux stellt einen Raum als Bühnenbild dar, den der Zuschauer selbst im Moment der Bildbetrachtung körperlich und haptisch erfährt. Was er im bildlichen Spiegel mit dem Auge erfasst, kann er gleichzeitig mit der Hand ergreifen oder durchschreiten – ganz analog zu der laut Condillac notwendigen Bewegung und dem Abtasten der Umgebung zum Verständnis der Räumlichkeit. Auf diese Weise gewinnt das Bühnenbild über eine bloß optische Illusion hinaus an Begreifbarkeit und damit an sinnlicher und intellektueller Zugänglichkeit.24 Der bildlich dargestellten Architektur ist eine Wahrnehmung und Überprüfung durch den Tastsinn zugeordnet.
15An anderer Stelle macht Ledoux das Thema der sinnlichen Wahrnehmung ebenfalls fruchtbar, etwa bei einem Oikéma genannten Bordell, das auf den ersten Blick als idyllischer Ort erscheint, jedoch bei einem Blick hinter die verhüllenden Mauern die furchtbaren Folgen des Lasters offenbart.25 Ledoux spricht zudem von verschiedenen Sinneswahrnehmungen, thematisiert die Folgen der Blindheit für die Wahrnehmung – indem er auf ihre positiven Folgen für Demokrit und Homer verweist26 – und gebraucht sensualistische Formulierungen wie „des sensations qui nous affectent“27, oder: „L’homme se perfectionne par ses propres sensations“28. Wie Condillac warnt Ledoux zudem vor einer Überforderung der Wahrnehmung durch zu große Vielfalt.29 Gerade bei dieser wiederholt auftretenden Problematisierung wird allerdings deutlich, dass nicht der Wahrnehmung als Ursprung der Ideen im Sinne des Sensualismus, sondern vielmehr der produktiven und steuernden Kraft des künstlerischen und technischen Genies die entscheidende Bedeutung zukommt.30 Die Sinneswahrnehmung führt laut Ledoux zu einem undifferenzierten Zugang von Tugend und Laster, Hässlichem und Schönen: „En effet, les hommes pompent avec les yeux les vertus et les vices, les impressions du plaisir et des peines, les effets qui stimulent la conception dans les arts; ceux qui régularisent leurs sensations par la réflexion, préparent en tous genres les délicieux transports du cœur.“31 Die Sinneswahrnehmungen sind für Ledoux weniger als Ausgangspunkt der Erkenntnis für den Architekten von Bedeutung, als vielmehr für den ungeschulten Betrachter. Sie müssen daher von dem Gestalter oder Entwerfer vorhergesehen und kontrolliert werden: „le génie commande, et la troupe obéissante des sensations va le servir.“32 Dass Ledoux im Sinne der sensualistischen Philosophie den Künstler außerhalb der menschlichen Fähigkeiten platziert, kann dabei nicht überraschen, da er den Architekten in seinem Werk mit bisweilen erheiternder Konsequenz als gottgleiches Schöpferwesen charakterisiert.33
2. Étienne-Louis Boullée – „sensation“ und „caractère“
16Auch der zweite wichtige Protagonist der ‚Revolutionsarchitektur’, Étienne-Louis Boullée, hinterließ zahlreiche nicht realisierte Entwürfe und einen Architekturtraktat, der jedoch erst im 20. Jahrhundert gedruckt wurde.34 Und auch er verstand es, in prägnanter Weise neue Gedanken in die Architektur einzuführen oder sie in originärer Weise zu verbinden. Wichtig sind für ihn Verbindungslinien zu Malerei und Poesie, die Caractère-Lehre und das Sublime, in Ansätzen erscheinen jedoch auch sensualistische Positionen. So findet sich in seiner zwischen 1781 und 1793 entstandenen Abhandlung Architecture, Essai sur l’art35 regelmäßig der Verweis auf die „sentiments“ oder „sensations“, die nicht nur zur Ästhetik, sondern auch zum Charakter eines Bauwerkes und zur Erkenntnismöglichkeit in direktem Bezug stehen:36 „Portons nos regards sur un objet! Le premier sentiment que nous éprouvons alors, vient évidemment de la manière dont l’objet nous affecte. Et j’appelle Caractère, l’effet qui résulte de cet objet, et cause en nous une impression quelconque. Mettre du caractère dans un ouvrage, c’est employer avec justesse, tous les moyens propres à ne nous faire éprouver d’autres sensations que celles qui doivent résulter du sujet.“37 Gerade die für Condillac so zentralen Kategorien der „sensations“ und „perception“ und „comparaison“ bezeichnet Boullée als sichere Grundlagen des „goût“, und das Risiko optischer Täuschungen bei perspektivischen Darstellungen verweist auf die Notwendigkeit eines durch den Tastsinn belehrten Visus.38 Wie Helen Rosenau und Jean-Marie Pérouse de Montclos zeigen konnten, bezieht sich Boullée mit einem expliziten Verweis auf sensualistische Philosophie primär auf Locke, kannte aber auch die Werke von Condillac.39 Gerade die für Boullée und Ledoux so charakteristische Reduktion der Architektur auf regelmäßige geometrische Figuren, die der Wiederentdecker der ‚Revolutionsarchitektur’ Emil Kaufmann als „Ende des Barocken Verbandes“40 und Häberle als „Elementarismus“41 bezeichnete, wird ausführlich über die Verbindung aus Sinneseindruck und Erkenntnis begründet. Unregelmäßige Körper („corps obscurs“), würden einen Eindruck der „confusion“ erzeugen, sie ermüden durch ein „image muette et stérile“; erst regelmäßige Körper ermöglichen Symmetrie und Vielfalt – aber auch Erkenntnis („idées nettes de la figure de corps“) und eine Möglichkeit der Benennung („dénomination“).42 Ganz ähnlich Ledoux beschreibt Boullée es als Aufgabe des Architekten, die durch die Baukunst erzeugten Sinneseindrückte distinkte und benennbare Ideen bilden zu lassen und damit die Voraussetzung für einen ästhetischen Eindruck schaffen, der statt ermüdender Willkür auch Abwechslung mit sich bringt. Und diese Vielfalt wird ebenfalls in sensualistischer Weise begründet, wenn Boullée damit eine Anregung der Seele verbindet.43 Die unmittelbare Verbindung von Sinneseindruck, Vorstellung und Geistestätigkeit bei Condillac ist in der Kombination aus Kuben, Kugeln und Zylindern bei Ledoux und Boullée architektonisch umgesetzt. Die Wahrnehmung führt unmittelbar zur Vorstellung einer Form, die als distinkte Idee den geistigen Prozessen zugänglich ist und – wie Condillac beschreibt – zu Klassifizierungen und Begriffen führt.44 Die Kombination und Durchdringung dieser Formen entspricht der Kombination der Vorstellungen, angefangen von einem urteilenden Vergleich bis hin zur Rolle der Imagination für Neuerfindungen – eine Rekombinatorik, die Ledoux als Alphabet an architektonischen Grundelementen beschreibt.45
17Zudem schlägt Boullée vor, von dem umgekehrten Fall Gebrauch zu machen. So soll sich das Auge des Betrachters bei einem Sakralbau in der scheinbar unendlichen Folge der Säulen verlieren – ähnlich wie beim Anblick des Himmels und Meeres: „Il n’y a nul moyen de faire des comparaisons“.46 Wenn nach Condillac das Urteil aus dem Vergleich der Eindrücke erwächst, so ist die Basilika dem menschlichen Urteil entzogen, da die Eindrücke sich in unendlicher Reihe abwechseln. Noch einen Schritt weiter geht der Autor des Essai sur l’art, wenn er den Eindruck beschreibt, den eine Allee hinterlässt. So würde die bei der Bewegung entstehende Folge von Sinneseindrücken die Vorstellung erzeugen, die Objekte würden den Spaziergänger begleiten, als wären sie mit Leben erfüllt: „à chaque pas, les objets se présentant sous de nouveaux aspects, renouvellent nos plaisirs par des tableaux successivement variés. Enfin, par un heureux prestige, qui est causé par l'effet de nos mouvemens, et que nous attribuons aux objets, il semble que ceux-ci marchent avec nous, et que nous leur ayons communiqué la Vie.”47
185. Étienne-Louis Boullée, Kenotaph für Isaac Newton, Schnitt (Zeichnung, Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, HA 57, 8)
19Nicht zuletzt begründet Boullée sogar die Konzeption seines bekanntesten Werkes, des nicht realisierten Kenotaphs für Isaac Newton in einer sensualistischen Weise, über eine Trennung von Gesichtssinn und Tastsinn (Abb. 5). Im Innern der gewaltigen Kugel, die durch kleine Öffnungen den Eindruck eines Sternenhimmels hervorruft, befindet sich der Betrachter zusammen mit dem Sarkophag des Physikers auf einer kleinen Erhöhung: „On verra un monument dans lequel le spectateur se trouveroit, comme par enchantement, transporté dans les airs, et porté sur des vapeurs des images dans l’immensité de l’espace. [...] Isolé de toutes parts, ses regards ne peuvent se porter que sur l’immensité du Ciel. La tombe est le seul objet matériel.“48 Der Architekt trennt hier die visuelle Wahrnehmung, welche der Illusion des unberührbar fernen Sternenhimmels Raum gibt, und die haptische, welche dem in greifbarer Nähe befindlichen Grabmal besonderes Gewicht als materielles Objekt verleiht. Die primäre Intention dieser Strategie ist zunächst einfach zu erfassen, indem Boullée hier der Unendlichkeit und scheinbaren Unfassbarkeit des Kosmos architektonischen Ausdruck verleiht und durch den Gegensatz des nahen steinernen Objektes betont. Vielleicht lässt sich hier jedoch mit Condillac auch eine Ebene der sensualistisch definierten Erkenntnis vermuten. Die haptische Präsenz Newtons – und sei es auch nur als leeres Monument – steht für die Erkenntnismöglichkeit, den Schlüssel zum Verständnis der Himmelskörper, die eine rein optische Wahrnehmung zunächst nicht ermöglicht, da sie lediglich einen überwältigenden Eindruck vermittelt.
3. Jean-Jacques Lequeu – die Schatten einer Berührung
20Der dritte prägende Protagonist der sprechenden und geometrisch reduzierten Architekturvorstellungen des späten 18. Jahrhunderts war Jean-Jacques Lequeu. Auch von ihm sind überwiegend Zeichnungen und Manuskripte überliefert, unter anderem ein Architecture civile genannter Band über Architektur, der vornehmlich in einer Folge von knapp erläuterten, meist fantastischen Entwürfen besteht. Im Vergleich zu den Entwürfen von Ledoux und Boullée zeigen sich die Architekturen von Lequeu weniger monumental denn als vielmehr verspielt, zumal sie eine merkwürdige Synthese mit erotischen Darstellungen eingehen, von denen er ebenfalls etliche hinterließ. In der bislang einzigen monographischen Würdigung dieses Künstlers äußert Philippe Duboy die Vermutung, Lequeu würde Condillacs Traité des Sensations in ironischer Weise aufrufen, wenn er erotische Themen in den Vordergrund rückt.49 Durchkämmt man das Manuskript der Architecture civile im Detail, so sind erneut vorwiegend implizite und allgemeine sensualistische Tendenzen festzustellen, etwa wenn der Autor mehrfach den Geruch in seine Konzepte einbezieht. Neben der Verwendung von Kräutern oder duftenden Hölzern ist dabei vor allem die Idee originell, einen mit wohlriechenden Gewächsen bepflanzten Hügel anzulegen, dessen Duft vom Wind in eine nahe Stadt getragen wird.50 Eine Kombination der Sinne und damit eine Vorstellung, die näher an den in Condillacs Publikationen entfalteten Theorien liegt, berücksichtigt Lequeu in einem enigmatischen Vorschlag, ein Portal zu einem Jagdgehege aus einem Stein zu errichten, der bei Berührung organische und schwefelige Gerüche freigibt.51
216. Jean-Jacques Lequeu, „Il est libre“ (Zeichnung, Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, EST RESERVE HA-80 (B, 7))
22Weit wesentlicher ist das Thema der Relation der unterschiedlichen Sinne für eine 1798-99 datierten Zeichnung, die Lequeu selbst in griechischen Lettern „Il est libre“ betitelte (Abb. 6).52 Eine aus einem Halbrundfenster herausschauende, auf dem Rücken liegende, nackte weibliche Gestalt greift nach einem ihr anscheinend entkommenen Paradiesvogel. Die Szene gewinnt durch die auffällige Beziehung von Körper und Schatten, die sich deutlich auf den schlichten Architekturformen abzeichnen, an Ambivalenz und Dramatik. Die zwei Spitzen des Vogelschwanzes werfen Schatten, die exakt von den Fingerspitzen der greifenden Hand berührt zu werden scheinen, auf den ersten Blick sogar von dieser auszugehen scheinen. Die graphische Verbindung zwischen Hand und Tier soll dabei an die Leinen erinnern, an denen als Haustiere gehaltene Vögel angebunden wurden, wie etwa eine Abbildung in Charles-Étienne Briseux‘ Traité du beau essentiel dans les arts von 1752 belegt.53 Nur der schon im Werk von Condillac entscheidenden Differenz von Gesichts- und Tastsinn ist es hier zu verdanken, dass die gefangene Kreatur in die Freiheit entweichen kann.
4. Aisthesis und Sensualismus
23In der französischen Architekturtheorie des späten 18. Jahrhunderts war der Sensualismus nicht nur im Sinne eines Schwerpunktes auf der sinnlichen Wahrnehmung wirksam, vielmehr nutzten Boullée, Ledoux und Lequeu die differenzierten Vorstellungen Condillacs für die erforschende Vertiefung einzelner architekturtheoretischer Problemstellungen. So macht Ledoux den Statue-Menschen bei der Vorstellung seines Theaters in Besançon zum Thema und versucht, die Idee einer Ergänzung von optischer und haptischer Wahrnehmung in einer Einheit von Zuschauerrund und Bühnenarchitektur zu entwickeln. Wie auch Boullée geht es ihm darum, die durch den Sensualismus aufgedeckten Wahrnehmungsformen für die Kunst – genauer den Gebrauch durch das schöpferische Genie – dienlich zu machen. Von zentraler Bedeutung ist der enge Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung, Erkenntnisvermögen und Schönheit, der nicht zuletzt eine neue Interpretation der für die ‚Revolutionsarchitektur’ kennzeichnenden Kombination von geometrischen Grundformen ermöglicht. Condillac, Ledoux und Boullée betonen, dass bei der Wahrnehmung ebenso auf Anregung zu achten wie Verwirrung zu vermeiden sei. Im Zentrum stehen einzelne distinkte Eindrücke, die aufeinander folgen, verglichen werden können sowie Gedächtnis und Imagination zur Verfügung stehen. Im Sinne des Sensualismus bedeutet diese Verfügungsmacht auch eine Auswahl, die dem Rezipienten einen Fokus auf das jeweils Angenehmste ermöglicht. Die einfachen und geometrisch klar definierten Formen und Räume sind demnach als eine Kombination von distinkten Ideen zu verstehen. Eine deutliche Trennung und hohe Prägnanz der einzelnen Sinneseindrücke führt im Sinne des Sensualismus zu einer ebensolchen Struktur der aus diesen folgenden Ideen, die auf diese Weise für den Betrachter in besonders fruchtbarer Weise genutzt werden können, indem sie Gedächtnis und Imagination zugänglich sind.
24Condillacs sensualistisches Konzept geht jedoch über eine bloße Analyse der Sinneswahrnehmungen weit hinaus. Gerade das Thema einer Relation von Subjekt und Objekt der Wahrnehmung wird ausführlich entwickelt. Der Autor fasst den Vorgang der Selbsterkenntnis als mühsames Loslösen von den Eindrücken auf, welche die Statue zunächst ganz ausfüllen und sogar mit dieser identisch sind. Diese Eindrücke müssen unter wesentlicher Beteiligung des Tastsinns nach außen verlegt werden, äußeren Gegenständen zugeordnet werden, um diesen externen Objekten eine Vorstellung vom Selbst gegenüberstellen zu können: „Cependant je porte les mains sur moi-même, je les porte sur ce qui m’environne. Aussitôt une nouvelle Sensation semble donner du corps à toutes mes manieres d’être. Tout prend de la solidité sous mes mains. Étonnée de ce nouveau sentiment, je le suis encore plus de ne me pas retrouver dans tout ce que je touche. Je me cherche où je ne suis pas [...]. Que deviens-je en effet, lorsque je compare le point où je suis, avec l’espace que remplit cette multitude d’objets que je découvre ?”54 Charakteristischer Weise führt dieser Prozess jedoch nicht zu einem soliden Fundament der Erkenntnis, sondern zu neuen Unsicherheiten, welche die Statue nicht kannte, als sie noch etwa mit einem Rosenduft identisch war.55
25Das einfache Verständnis, die wortwörtliche Begreifbarkeit der geometrischen Formen der ‚Revolutionsarchitektur’ ist somit unter anderem als Strategie zu verstehen, ein distinktes Verhältnis eines durch Selbsterkenntnis emanzipierten Betrachters und des künstlerischen Objektes zu stärken. Umgekehrt können daher Momente, in denen von diesem Primat bewusst Abschied genommen wird, als Versuche gedeutet werden, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben oder zumindest zu schwächen. Das gilt für den Überwältigungsgestus des Sublimen und Sakralen bei Boullée und Ledoux, das von Cochin thematisierte Übernatürliche oder den Einbruch einer abgründigen Erotik in den Bereich der Architektur bei Lequeu. Verdeutlichen lässt sich dieser Vorgang etwa am Newton-Kenotaph von Boullée; indem der architektonisch reproduzierte Sternenhimmel nur dem Visus zur Verfügung steht und der Eindruck weder durch den Tastsinn noch eine veränderte Betrachterposition reflektiert werden kann, wird eine irrationale Wirkung ebenso verstärkt wie die von Condillac beschriebene Möglichkeit impliziert, dass ein Betrachter mit dem Sinneseindruck identisch werden kann, indem letzterer seine geistigen Fähigkeiten völlig ausfüllt. Ein erneuter Blick in das Traité des Sensations deutet zudem eine Berücksichtigung der Imagination in Boullées Entwurf an; so definiert Condillac die Einbildung („imagination“) als eine Vergegenwärtigung, die sich durch eine höhere Intensität von einer Erinnerung unterscheidet und die es zudem ermöglicht, mehrere Vorstellungen zu kombinieren, die in der Natur nicht zusammen auftreten.56 Er betont, dass die Wirkung der Einbildungskraft bei einer auf einen Sinn beschränkten Statue ausgeprägter sei, da hier Ablenkungen und Korrektive fehlen würden, die dem Menschen die Vielfalt seiner Wahrnehmungsorgane zur Verfügung stellen würden und vor der Betäubung, Trunkenheit und Passivität bewahren, die eine ausgeprägte Imagination mit sich bringt. Indem Durand den Besucher des Kenotaphs durch die überwältigende Illusion eines fernen Sternenhimmels auf seine visuelle Wahrnehmung fokussiert – kein anderes Sinnesorgan hilft beim Verständnis dieser kosmischen Vorgänge, und die scheinbar grenzenlose dunkle Kuppel verunmöglicht jedes mit Hilfe des Tastsinns und der Bewegung etablierte Verständnis von Raum – regt er im Sinne Condillacs die Vorstellungskraft an. Das Universum wird zu einer imagination, die den Betrachter unkontrolliert erfüllt.57 Erst der in diesem Monument verherrlichte Newton lässt das überwältigende Phänomen real, verständlich und – auch im wörtlichen Sinne – begreifbar erscheinen.
Notes
1 Für den aktuellen Forschungsdiskurs siehe Meyer (A.), Zeichen-Sprache. Modelle der Sprachphilosophie bei Descartes, Condillac und Rousseau, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2008, S. 66-68. Vgl. auch: Le Roy (G.), La Psychologie de Condillac, Paris, Boivin, 1937; Ellen McNiven Hine, (E.) A Critical Study of Condillac’s Traité des Systèmes, The Hague, Nijhoff, 1979; Kweon Kim (D.), Sprachtheorie im 18. Jahrhundert: Herder, Condillac und Süßmilch, St. Ingbert, Röhrig, 2002; Oppenheimer (A.), „Erkenntnis ist Freiheit“, in Bonnot de Condillac (E.), Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis: ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt, übers. und hg. von Angelika Oppenheimer, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2006, S. 9-53; Fanari (R.), Condillac: Ontologia Ed Empirismo, Rom, Aracne, 2009. Bereits vor den Publikationen Condillacs wurden sensualistische Konzepte sehr kontrovers und vielseitig diskutiert, etwa bei Thomas Hobbes, Marin Cureau de La Chambre, Bernard Lamy und Nicolas Malebranche (Ricken (U.), Sprache, Anthropologie, Philosophie in der französischen Aufklärung. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Sprachtheorie und Weltanschauung, Berlin, Akademie-Verlag, 1984, S. 28, 33; O’Neal (J. C.), The Authority of Experience. Sensationist Theory in the French Enlightenment, University Park, The Pennsylvania State University Press, 1996, S. 13-20).
2 In den einleitenden Texten („Avis“ und „Dessein de cet ouvrage“) heißt es, man solle sich „exactement à la place de la statue“ versetzen: „Pour remplir cet objet, nous imaginâmes une statue organisée intérieurement comme nous, & animée d’un esprit privé de toute espèce d’idées. Nous supposâmes encore que l’extérieur tout de marbre ne lui permettoit l’usage d’aucun de ses sens, & nous nous réservâmes la liberté de les ouvrir à notre choix, aux différentes impressions dont ils sont susceptibles.“ (Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations, London und Paris, de Bure, 1754, Bd. 1, S. iv-v, 5-6).
3 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. IV, Chap. XI §3, S. 264.
4 Im Vergleich zu Locke geht Condillac ausführlicher auf die Genese der Erkenntnisvermögen ein, vgl. die Einleitung von Lothar Kreimendahl in Bonnot de Condillac (E.), Abhandlung über die Empfindungen, übers., hg. und komm. von Lothar Kreimendahl, Hamburg, Meiner, 1983, S. XXVIII.
5 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. I, Chap. VII §1.
6 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. I, Chap. I §2; Part. I, Chap. II §20-31.
7 Zur Aneignung des Pygmalion-Mythos vgl.: Dörrie (H.), Pygmalion, ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1974, S. 99; Warning (R.), « Rousseaus Pygmalion als Szenario des Imaginären », in: Mayer (M.°), Neumann (G.) (Hg.), Pygmalion: die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg im Breisgau, Rombach, 1997, S. 225-251, hier 241f.; Gaillard (A.), Le corps des statues: le vivant et son simulacre à l’âge classique (de Descartes à Diderot), Paris, Champion, 2003; vgl. die Anmerkungen von Robert Middleton in: Nicholas Le Camus de Mézières, The genius of architecture; or, the analogy of that art with our sensations, Chicago, The University of Chicago Press, 1992, S. 51-55. Zum Molyneux-Problem und seine Auswirkung auf die Theorie der Ästhetik vgl. Chouillet (J.), L’Esthétique des Lumières, Paris, Presses Univ. de France, 1974, S. 70f.
8 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. II, Chap. III §15: Bd. 2, Part III. Zur aktiven Rolle des Tastsinns bei Condillac sowie seinem Vorgänger George Berkeley und bei Buffon vgl. Michael J. Morgan, Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge u.a., Cambridge University Press, 1977, vor allem S. 59-61, 97-99. Besonders grundlegend wurde das Verhältnis dieser Sinneskräfte bei George Berkeley 1709 zum Thema, welcher ähnlich wie später Condillac dem Tastsinn die entscheidende Rolle bei der Vorstellung von Raum zuschrieb; auch er kennt das Molyneux-Problem (Berkeley (G.), An essay towards a new theory of vision, Dublin, Aaron Rhames for Jeremy Pepyat, 1709, S. 2f., 49, 137, 171). Ähnlich äußert sich Buffon: „C’est par le toucher seul que nous pouvons acquérir des connoissances complètes et réelles, c’est ce sens qui rectifie tous les autres sens dont les effets ne seroient que des illusions et ne produiroient que des erreurs dans notre esprit, si le toucher ne nous apprenoit à juger.“ (Le Clerc de Buffon (G.-L.), Louis Jean Marie Daubenton (L. J. M.), Histoire naturelle, générale et particulière, Bd. 3, Paris, Imprimerie royale, 1749, S. 363f., vgl. auch 312).
9 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. I, Chap. I, S. 18; Bd. 2, Part. IV, Chap. V §1.
10 Auch die Undurchdringlichkeit der Körper sei ein Urteil, das erst die tastenden Empfindungen ermöglichen, und nicht zuletzt sei der Bewegungstrieb der Kinder der belehrenden Kraft von Tasten und Bewegung geschuldet; erst der Tastsinn erlaubt das sinnvolle Denken von Relationen distinkter Einheiten, wie sie Körper im Raum ausbilden (Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. I, Chap. I §2, Part. I, Chap. II §20-25; Part. I, Chap. XI §2).
11 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. III, Chap. III §15, S. 46.
12 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. IV, Chap. VIII §3, S. 241f. Vgl. auch die Kapitelüberschrift: „Du toucher, ou du seul Sens, qui juge par lui-même des Objets extérieurs“ (Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations, Bd. 1, Part. II, Chap. I, S. 204).
13 Vgl. Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1 Part. I, Chap. XI §8. Sehr differenziert arbeitet Baxandall das Verhältnis von Tastsinn und Sehsinn bei Condillac heraus und bezieht dieses auf die zeitgenössische Malerei (Baxandall (M.), „Attention, hand and brush: Condillac and Chardin“, in Frangenberg (T.) und Williams (R.) (Hg.), The Beholder. The Experience of Art in Early Modern Europe, Aldershot/Burlington, Ashgate, 2006, S. 183-194). Vgl.: el-Khoury (R.), See through Ledoux, architecture, theatre, and the pursuit of transparency, San Rafael, ORO ed., 2006, S. 40-46; Berrett Brown (D.), „The Female Philosophe in the Closet: The Cabinet and the Senses in French Erotic Novels, 1740-1800”, in: Mark Taylor, Interior Design and Architecture. Critical and Primary Sources, London u.a., Bloomsbury Academic, 2013, Bd. 2, S. 179-201, hier S. 186-188; David Watkin (D.), „La Grèce et le sublime : la psychologie de Ledoux et Soane“, in: Claude Nicolas Ledoux et le livre d’architecture en français, Paris, Monum, Éditions du Patrimoine, Paris 2006, S. 120-128, hier S. 121f.; Drew Armstrong (C.), „Ledoux, Leroy et le Soi dans le livre d’Architecture au XVIIIe siècle“, in: Claude Nicolas Ledoux et le livre d’architecture en français, Paris, Monum, Éditions du Patrimoine, Paris, 2006, S. 190-197. Eine umfassende Liste möglicher sensualistischer Quelltexte für die Architektur des 18. Jhs. stellte Vidler zusammen (Vidler (A.), Claude-Nicolas Ledoux: architecture and social reform at the end of the Ancien Régime, Cambridge, Mass. u.a., The MIT Press, 1990, S. 377-379). Wichtige Hinweise auf Camus de Mézières und Roger de Piles gibt außerdem Robin Middleton (in: Le Camus de Mézières (N.), The genius of architecture [wie Anm. 7], S. 28, 54). Nicola Glaubitz und Jens Schröter formulieren sogar provokant: „Im 18. Jahrhundert könnte man die Aufmerksamkeit insbesondere für den Tastsinn geradezu zum Gradmesser für die Konjunktur von Aisthetik und Anthropologie machen“ (Glaubitz (N.), Jens Schröter, „Zur Diskursgeschichte des Flächen- und des Raumbildes“, in: Barck (J.), Schröter (J.) und Winter (G.) (Hg.), Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen, München u.a., Fink, 2009, S. 283-314). Zur Rolle der Sinne in der Architektur, jedoch vornehmlich in der Moderne vgl.: Pallasmaa (J.), The eyes of the skin. Architecture and the senses, Chichester, Wiley-Academy, 1996; Köhler (B.), „’Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes’ ... Zur synästhetischen Kraft des Geruchsinnes, oder: die Aromen der Modernität im Interieur“, Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift für Theorie der Architektur 31 (2013), S. 143-153; http://cloud-cuckoo.net/filead-min/hefte_de/heft_31/artikel_koehler.pdf [28.09.2015].
14 Kernbauer (E.), Der Platz des Publikums. Modelle für Kunstöffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Köln, Böhlau, 2011, S. 139f., 154-156.
15 Cochin (C. N.), Les misotechnites aux enfers, ou, Examen des observations sur les arts, Amsterdam (Paris), s.n., 1763, S. 32, 54, 59, 68, 78, 98.
16 Cochin (C. N.), Les misotechnites [wie Anm. 15], S. 32.
17 Cochin (C. N.), Les misotechnites [wie Anm. 15], S. 23.
18 Für einen Überblick über das Thema vgl. Antonio Hernandez, Grundzüge einer Ideengeschichte der französischen Architekturtheorie von 1560-1800, Basel, Buchdr. National-Zeitung, 1972. Der Zusammenhang sensualistischer Wertschätzung feiner Nuancen und eines Übens der Wahrnehmung mit seriellen Publikationen wird in einer Habilitationsschrift beleuchtet, deren Erscheinen für 2016 vorgesehen ist, und in welcher der methodische Bogen bis zu Gilles Deleuzes ‚Différence et répétition‘ geschlagen wird (Julian Jachmann, Von Serlio bis Ledoux. 'Differenz und Wiederholung' in seriellen Publikationen zur französischen Wohn- und Residenzarchitektur). Eine erstaunlich geringe Rolle spielte diese Problematik für Camus de Mézières, trotz des Titels seiner Schrift (vgl. Le Camus de Mézières (N.), The genius of architecture [wie Anm. 7], inbesondere die Einleitung von Robert Middleton, S. 54, 56, 71).
19 de Bastide (J.-F.), La Petite-Maison, publiée dans les Contes de M. de Bastide, Paris, L. Cellot, 1763; de Bastide (J.-F.), La Petite-Maison, Paris, Librairie des Bibliophiles 1879, S. 11-13, 23-25. Middleton datiert das Erscheinen einer ersten Fassung auf 1753 bzw. 1758, die endgültige Fassung wäre 1763 das erste Mal in den Druck gegangen (vgl. die Einleitung von Robin Middleton, in: Le Camus de Mézières (N.), The genius of architecture, Anm. 7, S. 54). Zur Kontextualisierung des Werkes vgl. auch die Anmerkungen von Anthony Vidler und Rodolphe el-Khoury in der englischen Übersetzung (de Bastide (J.-F.) (übers. von Rodolphe el-Khoury), The little house: an architectural seduction, New York, Princeton Architectural Press, 1996).
20 Häberle (M.), Pariser Architektur zwischen 1750 und 1800: die Entstehung des Elementarismus, Tübingen u.a., Wasmuth, 1995, S. 155f.
21 Einen guten Überblick über Begriffsproblematik und Forschungsfeld gibt Klaus Jan Philipp, Revolutionsarchitektur: klassische Beiträge zu einer unklassischen Architektur, Braunschweig u.a., Vieweg, 1990; neuere Ansätze finden sich ergänzend in: Rabreau (D.) (Hg.), Claude Nicolas Ledoux et le livre d’architecture en français – Étienne Louis Boullée, l’utopie et la poésie de l’art, Paris, Monum, 2006.
22 Jachmann (J.), „Claude-Nicolas Ledoux als Sensualist“, Zeitschrift für Kunstgeschichte 75/3 (2012), S. 351-372 – vgl. diesen Beitrag auch für einen Literaturüberblick. Zentrale Werke sind insbesondere: Vidler (A.),Claude-Nicolas Ledoux [wie Anm. 13]; Rabreau (D.), Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806) – L’architecture et les fastes du temps, Bordeaux, Blake (W.), Art & Arts, 2000; Gallet (M.), Claude-Nicolas Ledoux. Leben und Werk des französischen „Revolutionsarchitekten“, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, 1983. Die neuere Literatur revidiert nicht grundsätzlich das insbesondere von Vidler und Rabreau geprägte, sehr differenzierte Bild (vgl. Chouquer (G.), Daumas (J.-C.) (Hg.), Autour de Ledoux: architecture, ville et utopie. Actes du colloque international à la Saline royale d’Arc-et-Senans, le 25, 26 et 27 octobre 2006, Besançon, Presses Universitaires de Franche-Comté, 2008). Das Thema des Sensualismus verfolgte bislang am konsequentesten: el-Khoury (R.), See through Ledoux [wie Anm. 13].
23 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. III, Chap. III §2. Für eine ausführliche Erläuterung dieser These vgl. J. Jachmann, Claude-Nicolas Ledoux [wie Anm. 22].
24 Auch in der Darstellung der Decke des Theatersaales wird das Augenmotiv wieder aufgegriffen.
25 Jachmann (J.), Claude-Nicolas Ledoux [wie Anm. 22].
26 Ledoux (C.-N.), L’architecture considérée sous le rapport de l’art, des mœurs et de la législation, Paris, Auteur, 1804, S. 91.
27 Ledoux (C.-N.), L’architecture [wie Anm. 26], S. 65. Vgl. auch: „L’impression est le premier moteur, elle transige avec toutes les difficultés, et ne perd jamais sa force ni son activité.“ (ebd., S. 192). „Que ne peuvent les premières impressions de la nature! elles sont les premiers maîtres de l’homme; l’imitation a l’initiative sur les sensations; son pouvoir développe les vices et les vertus.“ (ebd., S. 172). Zu einer mehrere Sinne einbeziehenden Beschreibung vgl. das Oikéma (ebd., S. 200).
28 Ledoux (C.-N.), L’architecture [wie Anm. 26], S. 15.
29 Zu einem haptischen Eindruck in einem Garten und der Kritik an einem fehlenden Zusammenklang („Quelle incohérence!“), der die Augen ermüdet und im Gegensatz dazu die „surfaces tranquilles“: vgl. Ledoux (C.-N.), L’architecture [wie Anm. 26], S. 88f.; zur Gefahr von „fantôme“ und „illusion“ und Augentäuschungen vgl. ebd. S. 67, 124.
30 Ledoux beschreibt das Genie, seine Schwierigkeiten und seinen Antrieb (Ledoux (C.-N.), L’architecture [wie Anm. 26], S. 1, 6), die Seele des Genies formt alles, was sie berührt (ebd., S. 6f.), das Genie wirkt dann wie ein Magnet, der Metall bewegt oder festhält (ebd., S. 65), vgl. auch ebd., S. 29, 34, 67.
31 Ledoux (C.-N.), L’architecture [wie Anm. 26], S. 91, vgl. dazu auch S. 199 („Lisez l’histoire de tous les temps, vous verrez les vices et les vertus se perpétuer par les sensations; c’est un cartel obligé que l’œil engage avec l’imagination [...].“).
32 Ledoux (C.-N.), L’architecture [wie Anm. 26], S. 147.
33 Jachmann (J.), Claude-Nicolas Ledoux, Anm. 22.
34 Hernandez (A.), Grundzüge einer Ideengeschichte, Anm. 18, S. 122-125.
35 Eine zweisprachige, französisch-englische Ausgabe ist Helen Rosenau und Sheila de Vallée zu verdanken, ebenso ein erhellender Kommentar (Étienne-Louis Boullée und Helen Rosenau, Boullée & visionary architecture. Architecture, essay on art, London, Academy Ed., 1976).
36 Nach Boullée ist Architektur nicht mit dem Bauen zu identifizieren, sondern stellt die Konzeption des Bauwerkes wie ein Bild im Geist dar – das sei zumindest der künstlerische Teil, die Umsetzung dann Wissenschaft (Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „Introduction“, S. 119-121). Ihm zufolge ist es eine große Leistung, wenn jemand mit einem Kunstwerk in der Seele („âme“) die Empfindungen („sensations“) hervorrufen könnte, welche ein Blick auf die Natur erzeugt; allerdings sei das nicht möglich, denn dann wäre der Architekt wie Gott – Ledoux erweist sich in diesem Punkt als weniger skrupulös (ebd., „Examen“,S. 121f.). Nach Boullée sind es in der Architektur die Volumina und Massen, die mit den Sinnen spielen: „Les effets des corps proviennent de leurs masses. Oui! ce sont leurs masses qui agissent sur nos sens; c’est à leurs aspect que nous distinguons les formes légères et agréables, les formes lourdes et massives; les formes nobles majestueuses, élégantes et sveltes.“ (ebd., „Notes“, S. 113, 141).
37 Der Charakter des Gebäudes wird unmittelbar an den Sinneseindruck gekoppelt, aber auch der Kontrolle durch den Baukünstler unterworfen, dieser muss sich in seinem Ausdruck nach den Objekten in der Natur richten, genauer „d’après leur action sur nos sens“; die Sinneseindrücke, die man durch Naturschönheit erhält, sind Boullée zu Folge überwältigend – als Beispiel verwendet er die höchst eindrücklich geschilderten Charaktere der Jahreszeiten (Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „Caractère“, S. 89f., 123f.).
38 Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „Notes“, S. 113, 141.
39 Pérouse de Montclos (J.-M.), Étienne-Louis Boullée (1728-1799). De l’architecture classique à l’architecture révolutionnaire, Paris, Arts et métiers graphiques, 1969, S. 204f. Auch die Techniken, mit Lichteffekten zu spielen sind Boullée zufolge „neuves et philosophiques“ (Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], S. 127).
40 Kaufmann (E.), Von Ledoux bis Le Corbusier. Ursprung und Entwicklung der autonomen Architektur, Wien u.a., Passer, 1933, S. 13.
41 Häberle (M.), Pariser Architektur [wie Anm. 20].
42 Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „Consideration“bzw. „Examen“, S. 85f., 121f.
43 Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „Consideration“bzw. „Examen“, S. 85f., 121f.
44 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. IV, Chap. VI.
45 Rabreau (D.), Claude-Nicolas Ledoux [wie Anm. 22], S. 242.
46 Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], S. 93, 125.
47 Diese Beobachtung wird etwas später wiederholt: „enfin, en ce que le spectateur éprouveroit à chaque pas, l’effet le plus piquant de l’architecture, ce piquant effet qui naît de ce que nos regards ne sauroient parcourir des objets isolés dont la disposition les présente en divers sens, et d’une manière symétrique, sans que ces objets ne nous semblent se mettre en mouvement avec nous et que nous paroissions leur donner la vie.“ (Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „Basilicas“ bzw. „Basiliques“, S. 90-94, 126).
48 Boullée (É.-L.) und Rosenau (H.), Boullée & visionary architecture [wie Anm. 35], „A Newton“, S. 107, 136f.
49 Duboy (P.), Lequeu. An Architectural Enigma, London, Thames and Hudson, 1986, S. 60.
50 Duboy (P.), Lequeu [wie Anm. 49], S. 204 (fig. 142 in der ‚Architecture civile’); zudem sollen bei einem Äskulap geweihtem Monopteros Blumen gepflanzt werden, die zwei Sinne ansprechen: „les plus propres à charmer les yeux, à flater l’odorat.“ (ebd. S. 160, fig. 113 in der Architecture civile, für weitere Beispiele vgl. S. 172, fig. 118, S. 219, fig. 158, S. 233, fig. 172 und zum Geruch von Baustoffen S. 174, fig. 122). Möglicherweise führte die Idee einer Trennung und Rekombination der Sinnesorgane auch zur Idee für das Titelblatt der Nouvelle Méthode, ein ebenfalls ungedruckt gebliebener Traktat zum Zeichnen und Proportionieren des menschlichen Körpers. Hier erscheint ein Kopf, der aus verschiedenen Blöcken zusammengefügt scheint, an dem sich einzelne Elemente wie Augen, Nasen oder Mund befinden – das entspricht der Konstruktionsweise des Kopfes, die im Traktat dargestellt ist (vgl. Duboy (P.), Lequeu [wie Anm. 49], S. 261).
51 „Tous les animaux en Pierre de Porc; substance calcaire, combinée avec le soufre qui, au frottement repand une odeur d’urine de chat, d’oeuf couvi, ou de foix de soufre.“ (Duboy (P.), Lequeu [wie Anm. 49], S. 239, fig. 175 in der Architecture civile).
52 Duboy (P.), Lequeu [wie Anm. 49], S. 97.
53 Briseux (C.-E.), Traité du beau essential dans les Arts. Appliqué particuliérement à l’Architecture, 2 Bde., Paris, Auteur, 1752, S. 55f.
54 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. IV, Chap. VIII §2, S. 237f.
55 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 2, Part. IV, Chap. X.
56 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. I, Chap. II §27-31; Part. II, Chap. X und XI, S. 320.
57 Bonnot de Condillac (E.), Traité des Sensations [wie Anm. 2], Bd. 1, Part. I, Chap. II; Part. II, Chap. XI.
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